Dein altes Leben




Du wohnst in einem neuen Haus, mit Energiesparausweis, 
Iso-Festern, Solarplatten auf dem Dach, Erdwärmeheizung und dem 
ganzen Schnickschnack, den man heute halt so hat.
Auch ein paar Ikea-Möbel sind dabei, denn das ist angesagt immer noch,
und du willst ja schließlich mit der Zeit gehen. 
Aber auch, weil das Haus doch etwas teurer  geworden ist 
als du dachtest.

Du wohnst in einem neuen Haus, mit deinem alten Leben. 
Das wolltest du eigentlich entsorgen, als damals der Container 
kam. Aber so einfach ist das nicht!

Dafür gab es keine Kategorie, wo es herein gepasst  hätte.  Am ehesten 
noch der Bio-Müll! Aber etwas sperrig ist es auch, dein altes Leben. 
Und außerdem - jede Menge Problemabfall!



Dein Kind trägt einen sehr modernen Namen. 
Avantgardistisch, einzigartig!

Es trägt ihn, auch wenn ihm das mit der Zeit etwas 
schwer wird.

Dein Kind ist etwas Besonderes, Unvergleichliches. 
So etwas ist noch nie da gewesen. Nein, wirklich nicht! 
Nein - wirklich nicht!
Doch schaust du es an, schaust du ihm in die Augen, 
dann siehst du – dein Kind!

Dann siehst du das Einzige, was dich noch an dich selbst 
erinnert, an dich, an dein altes Leben!



Dein Arbeit von damals hast du zum Glück immer noch. 
Sie ist jetzt dein Job. Manchmal tust du neue Dinge, 
dann bist du innovativ.
Die Besprechung am Montagmorgen nennt ihr heute 
coaching.  Im Kalender, dem elektronischen, steht dein individuelles
timing.  Auch wenn du durch die Zeitfenster nicht durchblickst.
Dein Kollegium von damals hat sich ein bisschen verändert. 
Es ist heute dein Team.

Wenn ihr zusammen überlegt ob etwas gut und sinnvoll ist, 
macht ihr jetzt Evaluation. Du hast lange gebraucht, bis du 
bei dem Wort Evaluation nicht mehr automatisch an Charles Darwin 
gedacht hast.

Eigentlich weißt du: Auf Äußerlichkeiten kommt es nicht an.
Aber mit den Jahren musstest du feststellen, dass sich vieles an 
dir nicht von selbst erhält. Und dann hast du eben begonnen, erst 
mit Tönen, dann mit Färben, mit Schminken und Solarium, mit 
regelmäßigem Sport und Diät, um das Gewicht zu halten, jetzt, in der Lebensmitte.  
Und schließlich hast du sogar - du sagst es  nicht gerne, und eigentlich 
weiß es auch niemand - dann hast du sogar begonnen mit absaugen und 
aufspritzen, bzw. du hast es machen lassen.
Und wenn du dann vorm Spiegel stehst, fertig gestylt, dann lächelst du
dich an und bist zufrieden.
Du lässt dich eben nicht gehen, so wie andere. Du tust etwas! 
Und wenn du  dann vor dem Spiegel stehst - abgeschminkt - dann 
vermeidest du einen  weiteren Blick. Doch wenn du es tun würdest, 
wenn du dir in die Augen schautest, ungeschminkt, dann würdest du 
vielleicht noch etwas sehen,  von dir, so wie du eigentlich bist,
von deinem alten Leben!


Du hast dich verändert. Jedenfalls deine Oberfläche.

Du bist gelebt worden, jahrelang, und das intensiv!

Um den Schmerz darüber nicht durch zu lassen, 
hast du dir Klarlack auf deine Seele geschmiert. Und wenn dich
jemand fragt: „Alles klar?“  Dann sagst du: „Alles klar!“
Und es ist noch nicht mal mehr gelogen.

Dein neues Leben ist immer auch dein altes Leben. 
Du nimmst dich überall mit hin!

Im Netz



Vor längrer Zeit, wohl fünfzehn Jahren,
vielleicht auch noch nicht ganz so lang,
war's allseits üblich unter Paaren
am Samstagabend wegzufahren,
man hatte dabei null Empfang

Kein Handy piepte um uns ständig,
bereitete den Nerven Qual,
das Surfen, wenn man's tat, war trendig
und zwar nicht cyber, nein, lebendig,
umnetzt von Wasser allemal

Das smartphone war noch nicht Bestandteil
von unsrem Taschen-Inventar.
Man bot auch damals schon viel Tand feil,
nicht online, das liegt auf der Hand, weil
e-bay noch nicht vorhanden war

Ich sehn' mich nicht nach andren Zeiten,
die waren auch nicht immer nett,
doch damals gab's mehr Möglichkeiten
sich live zu treffen, live zu streiten,
stattt dessen hat man heut' die Flat.

Doch für das Netz ist's symptomatisch
und kaum zu spürn – wie sag' ich's bloß? -
man nutzt es mit der Zeit fanatisch,
vergisst die Zeit, und automatisch
lässt es einen nicht mehr los

Bist du erst einmal festgehalten,
im Netz verstrickt, das ist nicht schön.
Doch um 'was Neues zu gestalten,
kannst du es immer noch abschalten
und einfach mal nach draußen gehn